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AutorenbildHilge Kohler

Klartext oder Kauderwelsch: Wie verständlich spricht die neue Regierung?

Große Vorstellungsrunde am Nikolaustag: Olaf Scholz präsentierte sein Kabinett, die Grünen das ihre. In kurzen Reden stellten sich die designierten Ministerinnen und Minister vor. Macht das Lust, mehr von ihnen zu hören?



Etwas nervös steht sie da, die Finger nesteln am Handy, der Mund zuckt. Nancy Faeser darf als Erste auf die Bühne, zu Olaf Scholz, der sie gerade angekündigt hat. Als designierte Innenministerin hat er sie vorgestellt und in höchsten Tönen gepriesen. Nun ist es an ihr, das Publikum zu überzeugen, dass sie die Richtige ist.


Nancy Faeser nimmt sich dafür wenige Sätze. Freut sich über “die Ehre”, ernannt zu sein. Spricht vom “Anspruch der Menschen, dass wir für ihre innere Sicherheit sorgen”, von gut ausgebildetem und ausgestattetem Personal. Ihr “besonderes Anliegen” sei es, “die größte Bedrohung” - den Rechtsextremismus - zu bekämpfen. Ein kurzer Dank und Schluss.



Der Küchenzuruf als Testwerkzeug


Es ist Nikolaus und die neue Regierung nimmt Gestalt an. Am Morgen stellt Olaf Scholz seine Ministerriege vor, nachmittags werden die Grüne die ihre präsentieren. Dreizehn Köpfe, dreizehn Reden. Wie klingen sie, was haben sie zu sagen?


Ich teste ihre Reden mit dem Küchenzuruf. Der Küchenzuruf beschreibt, was bei Leserinnen oder Zuhörern von einem Text oder Vortrag hängen bleibt. Formuliert wurde er von Stern-Gründer Henri Nannen vor fünfzig Jahren. Nannen beschrieb, was in deutschen Wohnzimmern geschah: Vater sitzt im Sessel und liest Zeitung, während Mutter in der Küche räumt. Und wenn Vater etwas richtig interessiert, ruft er in die Küche hinüber: “Hör dir das an: …”


Das ist der Küchenzuruf: Ich höre oder lese, und etwas davon bleibt haften. Weil es mich besonders betrifft, interessiert oder überrascht. Und wenn mich jemand fragt, worum es ging, dann antworte ich genau das.

Auch wenn Vater heute nicht mehr im Sessel sitzt, während Mutter in der Küche räumt: Das Prinzip des Küchenzurufs ist aktuell und wird im Journalismus nach wie vor gelehrt. Das Setting lässt sich modernisieren: Ich verfolge die Pressekonferenz live auf Phoenix, ein Kollege steht in der Kaffeeküche. Er ruft: “Was hat Habeck gesagt?” Und ich antworte mit einem Küchenzuruf.


Was also haben Habeck und Co gesagt? Was behalte ich in Erinnerung, was scheint mir wichtig? Wie fasse ich in einem Satz zusammen, was ich gehört habe? Mit dieser Frage gehe ich an die Reden der Kandidatinnen und Kandidaten auf den Pressekonferenzen von SPD und Grünen.



Küchenzurufe auf der Pressekonferenz der SPD


Bei der SPD stellt Olaf Scholz die Ministerinnen und Minister einzeln vor. Jedes Mal höre ich ihn sagen: Bestens geeignet für den Job.


Von Nancy Faeser bleibt mir das “besondere Anliegen” haften.


Hubertus Heil spricht von Mindestlohn, Bürgergeld, stabilen Renten. Und dass Deutschland “Weiterbildungsrepublik” werden muss.


Bei Christine Lambrecht höre ich Beschaffung, Soldatenberuf attraktiv machen, Auslandseinsätze.


Karl Lauterbach spricht davon, zu impfen, die Pandemie in den Griff zu bekommen und das Gesundheitssystem zu stärken.


Klara Geywitz will 400.000 Wohnungen bauen, Bauforschung stärken, sich um Sicherheit für Mieter kümmern.


Bei Svenja Schulze geht es um Transformation und Klimawandel und dass sie das nun international voranbringen wolle.


Wolfang Schmidt will als Kanzleramtsminister Scholz den Rücken freihalten, “damit er das machen kann, was er versprochen hat: ordentlich zu regieren.”



Küchenzurufe bei der Vorstellungsrunde der Grünen


Und nachmittags bei den Grünen?


Den Anfang macht Annalena Baerbock: Sie spricht über “die prioritäte und allerwichtigste Aufgabe dieser Bundesregierung” und “ein Kabinett auf der Höhe unserer gesellschaftlichen Realität”.


Robert Habeck ersehnt “die Versöhnung von ökonomischen Fragen und ökologischen Notwendigkeiten” und dass aus “Gegensatzpaaren” “Kreativpole” werden sollen.


Steffi Lemke spricht über “das Lösen der Naturzerstörung” und “die besondere Herausforderung, Landnutzung und Landschutz unter einen Hut zu kriegen”.


Anne Spiegel steckt “voller Vorfreude” darauf, “die wichtigen gesellschaftspolitischen Themen anzupacken”. Und meint, “es braucht eine eigenständige Jugendpolitik”.


Cem Özdemir nimmt sich vor: “Raus aus der eigenen Bubble, raus aus der Öko-Nische”, und dass er “der oberste Anwalt der Bäuerinnen und Bauern in diesem Land, aber auch oberster Tierschützer” sein werde.


Claudia Roth spricht zwar nicht als designierte Ministerin, aber in einer Riege mit ihnen. Ich höre Vertrauensvorschuss, Paradigmenwechsel, Aufbruch in die Wirklichkeit. Dann sagt sie: “Letzter Satz." Es folgt ein Bandwurmsatz über “einen neuen Stil der Politik” und “das Ernstnehmen, die Anerkennung und den Respekt”.



Zwischen Nebelkerzen und Fachchinesisch


So viele verschiedene Küchenzurufe habe ich gehört. Mein Fazit:


Bei der SPD kann ich klare Inhalte benennen, zumindest in Schlagwörtern. Mir fällt es leicht zu sagen, worum es ging. Aber über die Schlagworte hinaus erfahre ich nicht viel.


Bei den Grünen gehe ich verloren. Ich schnappe wohlformulierte Broken auf, aber bin nicht sicher, was mir die Redenden eigentlich sagen wollen.


Ist es nicht oft so? Dass wir Politikern lauschen und denken, das klingt irgendwie alles gut und richtig - aber wirklich klüger fühlen wir uns nachher nicht. Mal werden wir von Worthülsen, Kauderwelsch und Nebelkerzen eingelullt, mal von kompliziertem, unverständlichem Fachchinesisch erschlagen. Oder stimmt das gar nicht, sind es bloße Unterstellungen?



Verständlichkeit lässt sich messen


Wie klar jemand sich ausdrückt, wie verständlich man formuliert: Das lässt sich messen. Zum Beispiel mit dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex (HIX). Entwickelt am Lehrstuhl von Frank Brettschneider an der Universität Hohenheim, soll der Index vergleichbar machen, wie verständlich Texte und Manuskripte formuliert sind.


Der HIX wertet aus, wie lang im Schnitt die Sätze und Wörter sind, ob Anglizismen oder Fremdwörter vorkommen und dergleichen mehr. Mittels Software werden Texte analysiert und auf einer Punkteskala verglichen. Je verständlicher ein Text, desto mehr Punkte erreicht er.


Mit dem HIX analysiert das Hohenheimer Team die Texte von Unternehmen, Parteien und Verbänden. Unternehmen haben in den letzten Jahren immer besser abgeschnitten. Ihre Pressemitteilungen, Kundenbroschüren und öffentlichen Reden drängen sich inzwischen in der oberen Hälfte der Punkteskala.



Parteien bekommen schlechte Noten


In der Politik aber ist noch viel Luft nach oben. Von 0 bis 20 reicht die mögliche Punktzahl im HIX. Doktorarbeiten in Politikwissenschaften kommen im Schnitt auf 4,3 Punkte, Hörfunknachrichten auf 16,4 Punkte. Die Wahlprogramme der Bundestagswahl 2021 erreichen im Schnitt 7,2 Punkte. Die Pressemitteilungen der Bundesregierung zum Thema Corona-Kommunikation kommt auf rund 8 Punkte. Das ist ziemlich schwer verständlich.


Dabei geht es nur um die Form, nicht um den Sinngehalt. Auch Unfug lässt sich mehr oder weniger verständlich formulieren.


Merke: Nicht alles, was verständlich klingt, ist auch gut. Aber wenn ich es nicht verstehe, kann ich auch nicht herausfinden, ob es gut ist.

Die Verständlichkeit zu analysieren, ist leicht. Viel leichter als der Versuch, Inhalte zu analysieren. Standardisieren und mit einem Index abbilden lässt sich Inhaltsanalyse kaum. Wir können Stichworte und kurze Phrasen erkennen - so wie ich, als ich den Reden bei der SPD lauschte. Aber über Stichworte hinaus?



Die Botschaft dringt nicht immer durch


Der gute alte Küchenzuruf kann helfen. Er zeigt, was aus einem Text verstanden und behalten wird. Und er zeigt, worum es wirklich geht: Um das, was bei uns ankommt - und das ist nicht immer das, was gesendet wird.


Als die Pressekonferenz der SPD zu Ende war, fragte mich eine Kollegin, wie es gewesen sei. Als Erstes erzählte ich, wie Olaf Scholz seinen Arbeitsminister einführte. Er nannte Hubertus Heil “fast schon ein altes Schlachtross - das Niedersachsen-Ross”.


So ist das mit den Küchenzurufen: Idealerweise gleichen sie der Botschaft des Redners. Aber das Leben ist selten ideal.

Wie verständlich die neue Regierung spricht, das wird sich zeigen. Ich hoffe, dass SPD und Grüne das Beste aus ihren beiden Welten verbinden werden. Gemessen an ihren Vorstellungsrunden am Nikolaustag hieße das: Kluge Gedanken in klare Worte packen.



Quellen:

Die Pressekonferenz der SPD auf phoenix

Die Pressekonferenz der Grünen auf phoenix

Die Verständlichkeitsforschung an der Uni Hohenheim

Die Analyse der Corona-Kommunikation der vorigen Bundesregierung





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